Die zeitgenössische kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoah wird stark durch das Konzept der Postmemory (Hirsch 1997) geprägt. Der Fokus liegt hierbei auf der Übermittlung und Vergegenwärtigung der traumatischen Ereignisse aus der Sicht der sogenannten zweiten und dritten Generation, die diese im Rahmen einer familiären Übertragung übernommen haben. Demnach erfolgt die postmemoriale Rückerinnerung durch Bilder, Geschichten, Verhaltensweisen und Affekte, die häufig einen phantomatischen Charakter (Abraham 1991) haben.
Die generationelle und zeitliche Entfernung zur Shoah ist auch in einem weiteren Konzept, dem Konzept des Postkatastrophischen eingeschlossen (vgl. Artwińska / Czapliński / Molisak / Tippner 2015; Artwińska / Tippner 2016). Ähnlich wie das Konzept der Postmemory, konzentriert sich das Postkatastrophische nicht so sehr auf die konkreten Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, sondern fragt verstärkt nach den Folgen der Katastrophe der Shoah für die Zeit, in der sie als überliefertes Ereignis gilt. Diese semantische Verschiebung führt dazu, dass nicht mehr die Frage nach dem Was (ist passiert) sondern vielmehr die Frage nach dem Wie (man davon erzählt) vertieft wird. Beide Konzepte begreifen die extreme Erfahrung nicht als einen Zustand, sondern als einen Prozess, der in die postkatastrophische Situation hineinverlängert wird. Im Gegensatz zu Postmemory werden aber im Rahmen des Postkatastrophischen stärker auch nicht-familiäre Konstellationen fokussiert. Dies nicht zuletzt, da das Spektrum des Nachlebens der Shoah auch Dinge, Objekte, Reste und Ruinen umfasst, deren Übertragung nicht vornehmlich als (biologische) Vererbung definiert wird. Eine weitere Besonderheit des Postkatastrophischen liegt in der vergleichenden Perspektive im Sinne der der vielseitigen Erinnerung (multidirectional memory; Rothberg 2009), in der die Einzigartigkeit der Shoah als Bezugs- bzw. Ausgangspunkt für die Narrative über die vor, während und nach der Shoah stattgefundenen Ereignisse sowie das an den Tag gelegte Verhalten der Nicht- Juden betrachtet wird. Zu ihnen gehören die Erinnerung an andere Opfer des nationalsozialistischen Verbrechens (u.a. Sinti und Roma, politische Häftlinge, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene), der Antisemitismus der Vor- und Nachkriegszeit, der Holodomor in der Ukraine (1932–1933), der Stalinismus, die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten etc. Somit dient das Konzept der Postkatastrophe dazu, die Shoah nicht nur in den Kontext nationalsozialistischer Gewaltverbrechen einzubinden, sondern sie in einer semantischen Nähe zu anderen Krisen des 20. Jahrhunderts zu betrachten, um auf diese Weise ihre Besonderheiten bzw. Verknüpfungspunkte herauszuarbeiten.
Die internationale Tagung „Das Nachleben der Shoah in mittelosteuropäischen Kulturen – Konzepte, Probleme und Ästhetiken des Postkatastrophischen“ soll eine der ersten Konferenzen in dem deutschsprachigen Raum sein, die sich mit der Nachwirkung des Holocaust in einer komparatistischen, fachübergreifenden Perspektive beschäftigt. Unser Ziel ist es, eine Plattform zu etablieren, die einen fachlich fundierten Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus In- und Ausland ermöglicht und somit einen Beitrag für das Verständnis der Katastrophe der Shoah in der Zeit des Postkatastrophischen leistet. Anders als viele andere Veranstaltungen, die sich mit der Problematik der Shoah befassen, geht es uns nicht lediglich um eine Bestandaufnahme in puncto „Holocaust in slavischen Literaturen und Kulturen des 21. Jahrhunderts“, sondern um Erprobung und Anwendung neuer methodologischen Ansätze, die für das zeitgemäße Vergegenwärtigung und Aneignung der Shoah von essenziellen Bedeutung sind. Somit verfolgt die geplante Veranstaltung den Zweck, eine neue Diskussionskultur und Forschungsgemeinschaft ins Leben zu rufen, die sich auch zukünftig weiter mit der Fragestellung der Konferenz befassen wird.