Forschungsprojekt
Das Spannungsfeld Individualisierung und Vergemeinschaftung im Unterricht. Vergleichende videographisch-interpretative Unterrichtsforschung in Deutschland und Japan. / Individualization and Collectivisation in Classroom: Comparative Videobased-Interpretative Lesson Inquiry in Germany and Japan
Weitere beteiligte Organisationseinheiten
Titel (Deutsch)
Das Spannungsfeld Individualisierung und Vergemeinschaftung im Unterricht. Vergleichende videographisch-interpretative Unterrichtsforschung in Deutschland und Japan.
Titel (Englisch)
Individualization and Collectivisation in Classroom: Comparative Videobased-Interpretative Lesson Inquiry in Germany and Japan
Beschreibung (Deutsch)
"In der wertepluralistischen Gesellschaft gibt es zur Lebensform der mündigen, sich selbst bestimmenden und eigenverantwortlichen Person keine vernünftig begründbare Alternative. [...] Mündigkeit ohne sittliche Orientierung wäre bloß eine ungerichtete Energie, die positive Zufallswirkungen zustande bringt oder Katastrophen" (Schiefele 1993: 177). So formuliert gerät das Ideal der selbstbestimmten Person zum pädagogischen Imperativ der (globalisierten) Moderne (vgl. Uhle 1995). Dem steht gegenüber, dass sich Einzelne erst in einer differenzierten Gesellschaft als Personen konstituieren können. Zugleich fällt es schwer, Gesellschaft als das (logisch, nicht situativ oder ontogenetisch) ‚Vorgängige‘ zu begreifen, da sie nicht als (allen) Individuen äußerliche Entität gedacht werden kann, sondern immer nur als durch Individuen realisierte. Indem menschliche Tätigkeit als gemeinsame realisiert wird, werden zugleich eine bestimmte Sozialität sowie bestimmte Personen bzw. Individuen hervorgebracht, d.h. zugleich (re-)produziert und verändert. Diese ineinander verschränkten Prozesse kann man als Individualisierung und Vergemeinschaftung bezeichnen. Diese Verschränkung voraussetzend ist weder eine Verabsolutierung von Autonomieidealen noch potentiell vereinnahmenden Gemeinschaftsidealen (bzw. Totalisierungen) vertretbar. Damit sind genuine Ambivalenzen verbunden, z.B. eine gewisse ‚Ortlosigkeit‘ von Individuen durch die Notwendigkeit der Lösung aus Selbstverständlichkeiten partikularer Bindungen, die Notwendigkeit der Balance zwischen Vereinnahmung und Vereinzelung und das Spannungsverhältnis von Gemeinsinn und Konkurrenz, Anpassung und Abweichung. Im Projekt werden die oben auf allgemeiner, gesellschaftlicher Ebene beschriebenen Prozesse der Individualisierung und Vergemeinschaftung in Interaktionen im organisatorischen Rahmen des schulischen Unterrichts durch interpretative videographische Forschung untersucht. Hierbei wird jeder Unterricht insbesondere als Lehr- und Lernkultur, die sich stets durch zwischenmenschliche und gegenstandsgebundene Praktiken entwickelt, beobachtet. Mit Blick auf die benannten ethischen Ambivalenzen der Individualisierungs- und Vergemeinschaftungsprozesse wird zu reflektieren sein, welche Methoden und Methodologien geeignet sind, zugleich Bindungs- und Lösungsprozesse, Selbst- und Fremdbestimmung usw. sichtbar zu machen. Das Projekt erfolgt als interkultureller Dialog zwischen deutschen und japanischen Forschenden, der sowohl eine systematische Befremdung der eigenen kulturell gewachsenen Vorstellungen von Individualisierungs- und Vergemeinschaftungsprozessen als auch eine Verständigung auf Grundlage der gewonnenen Einsichten ermöglicht. Der Vorteil des Vergleichs liegt dabei auf zwei Ebenen: Erstens wird im Hinblick auf die beobachteten pädagogischen Praktiken und deren gesellschaftlich-kulturelle Einbettung und Gewordenheit eine (höhere) Varianz erzielt, die vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragen lässt. Zweitens wird auch die eigene wissenschaftliche Praxis (u.a. Erkenntnispolitiken, Methodologie, Methodik) ihrer Unhinterfragbarkeit beraubt. Der Vergleichspartner Japan ermöglicht es darüber hinaus, zu untersuchen, wie sich der oben beschriebene Imperativ in schulischer Lehr-Lern-Kultur in einem nicht durch die westliche Moderne geprägten Kontext zeigt. In Realisierung der Ziele des interkulturellen Dialogs werden videographierte Unterrichtsstunden aus Deutschland und Japan in der Kooperation mit der Hiroshima Universität bilateral interpretiert. Ausgehend von Mikroanalysen der unterrichtlichen Interaktion werden in der Interpretation relevant werdende Kontextinformationen und -dokumente hinzugezogen, die das Verhältnis von Individualisierung und Vergemeinschaftung vor dem Hintergrund kulturell unterschiedlicher Rezeptionen der modernen Pädagogik und Didaktik auf verschiedenen Ebenen erst verstehbar machen.
Beschreibung (Englisch)
"In the value pluralistic society, there is not a reasonably justifiable alternative to the life of the mature, self-determining and self-responsible person. [...] Maturity without moral orientation would merely be an undirected energy that brings about positive random effects or catastrophes" (Schiefele 1993: 177). In this context, the ideal of the self-determined person becomes the pedagogical imperative of (globalized) modernity (cf. Uhle 1995). However, individuals can only constitute themselves as persons in a differentiated society. At the same time, it is difficult to understand society as the (logical, not situational or ontogenetic) 'preceding', since it is unthinkable as an external entity for (all) individuals, but always only as realized by individuals. In realizing human activity as a common one, a certain sociality as well as certain persons or individuals are simultaneously produced, i.e. at the same time (re-)produced and changed. These intertwined processes can be described as individualization and collectivization. Assuming this entanglement, neither an absolutisation of autonomy ideals nor potentially appropriating collective ideals (or totalisations) is justifiable. This is associated with genuine ambivalences, e.g. a certain 'placelessness' of individuals due to the necessity of a release from particular ties, the necessity of a balance between appropriation and isolation and the tension between public spirit and competition, adaptation and deviation. The project investigates the processes of individualization and collectivization, described above on a general, societal level, in interactions within the organizational framework of school lessons through interpretative videographic research. Each lesson is observed as a culture of teaching and learning, which is always developed through interpersonal and object-related practices. With a view to the ethical ambivalences of individualization and collectivization processes mentioned above, it will be necessary to reflect on which methods and methodologies are suitable to make visible processes of bonding and release, self-determination and heteronomy, etc. The project takes place as an intercultural dialogue between German and Japanese researchers, which enables both a systematic alienation of one's own culturally grown ideas of individualisation and collectivization processes and an understanding based on the insights gained. The advantage of the comparison lies on two levels: First, with regard to the observed pedagogical practices and their socio-cultural embedding and becoming, a (higher) variance is achieved, which allows to question something "natural". Second, one's own scientific practice (e.g. cognitive orientations and methodology) is also deprived of its unquestionability. The comparison partner Japan also makes it possible to investigate how the pedagogical imperative shows in school culture of teaching and learning in a context that is not shaped by the Western modernity. In order to realize the goals of intercultural dialogue, videotaped lessons from Germany and Japan will be interpreted bilaterally in cooperation with Hiroshima University. Based on micro-analyses of the lesson-related interaction, relevant contextual information and documents will be included in the interpretation, which make the relationship between individualization and collectivization understandable on different levels against the background of culturally different receptions of modern pedagogy and didactics.
Projektbeginn
01.04.2017
Projektende
31.12.2020
Antragsteller_in
    Projektleitung
    Externe Projektwebsite
    Übergeordnetes Projekt
    Finanzierung des Projekts durch
      Verbundprojekt
      Publikation
      • Kinoshita, E.
        大学で授業をするということ:ドイツでの非対面式授業の経験から (Lehre an der Universität: Online-Lehrveranstaltungen in Deutschland))
        In: Yoshida, N.; Kusahara, K. (Hrsg.)
        ポスト・コロナの学校教育:教育者の応答と未来デザイン (Redesigning School Education in a Post-COVID-19 Pandemic World). Hiroshima: 渓水社 (Keisuisha). 2020. S. 144-144
      • Hallitzky, M.; Kieres, C.; Kinoshita, E.; Yoshida, N. (Hrsg.)
        Unterrichtsforschung und Unterrichtspraxis im Gespräch. Interkulturelle und interprofessionelle Perspektiven auf eine Unterrichtsstunde
        Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. 2022
      • Hallitzky, M.; Kinoshita, E.
        „Sie konnten zusammen nicht kommen“ – Interprofessionalität und Interkulturalität in der Perspektivierung von Unterricht
        In: Hallitzky, M.; Kieres, C.; Kinoshita, E.; Yoshida, N. (Hrsg.)
        Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. 2022. S. 17
      • Spendrin, K.; Kinoshita, E.; Herfter, C.; Leicht, J.; Hallitzky, M.
        Individualisierung und Vergemeinschaftung in der Unterrichtsinteraktion. Diskussionsgemeinschaft zwischen Offenheit und Lenkung.
        In: Hallitzky, M.; Kieres, C.; Kinoshita, E.; Yoshida, N. (Hrsg.)
        Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. 2022. S. 48
      • Herfter, C.; Kieres, C.; Leicht, J.; Matsuda, M.; Miyamoto, Y.; Yoshida, N.
        Potenziale und Grenzen einer forschungsbasierten, interprofessionellen Unterrichtsentwicklung
        In: Hallitzky, M.; Kieres, C.; Kinoshita, E.; Yoshida, N. (Hrsg.)
        Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. 2022. S. 99
      • Spendrin, K.; Hallitzky, M.; Mbaye, M.
        Grenzbearbeitungen von Schulpraxis und qualitativ-rekonstruktiver Unterrichtsforschung im Dialog über Lehrer:innenfragen.
        In: Frank, M.; Geier, T.; Hornberg, S.; Machold, C.; Otterspeer, L.; Singer-Brodowski, M.; Stošić, P. (Hrsg.)
        Grenzen auflösen - Grenzen ziehen. Grenzbearbeitungen zwischen Erziehungswissenschaft, Politik und Gesellschaft.. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budric. 2023. S. 103-122

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